Arbeitskreis Medizinischer Ethik-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland e.V.
Im Jahr 1983 wurde der „Arbeitskreis Medizinischer Ethik-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland e.V.“ gegründet. Ihm gehören aktuell 52 nach Landesrecht gebildeten Ethik-Kommissionen als Mitglieder an. Der Arbeitskreis schützt Patienten, Probanden und Forscher.
Der Arbeitskreis harmonisiert die Tätigkeit der Ethik-Kommissionen, insbesondere in der Entscheidungsfindung und in Verfahrensfragen. Er bietet Fortbildungen zur Arbeit von Ethik-Kommissionen an und fördert den Meinungs– und Erfahrungsaustausch national und international. Er bezieht Stellung zu Belangen der Ethik-Kommissionen im öffentlichen Diskurs.
Forschung am und mit Menschen
Geschichte und Rolle der Ethik in der medizinischen Forschung, der Ethik-Kommissionen und des Arbeitskreises Medizinischer Ethik-Kommissionen
Entwicklung der Ethik in der Medizinischen Forschung
Der Fortschritt der modernen Medizin basiert im Wesentlichen auf der systematischen experimentellen Forschung zu Krankheitsmechanismen, Diagnostik und Therapie. Aus der Wechselbeziehung zwischen ärztlichem Handeln und Forschen erwächst jedoch unweigerlich ein ethisches Konfliktpotential. Ist das ärztliche Handeln dem Wohl des individuellen Patienten verpflichtet, strebt wissenschaftliches Handeln in erster Linie den Gewinn verallgemeinerbarer Erkenntnisse an. Die Ungewissheit von Risiken und Nutzen medizinischer Forschung mit Menschen steht im Konflikt zu den medizinethischen Prinzipien Wohltun und Nichtschaden im Umgang mit der Versuchsperson. Andererseits ist die Anwendung einer Therapie oder Diagnostik, deren Nutzen und Sicherheit nicht wissenschaftlich bestätigt wurde, ebenfalls als unethisch zu bewerten. Dieser Grundkonflikt ist nicht mit einem Rundumschlag auflösbar, sondern muss immer wieder moderiert und soweit irgend möglich befriedet werden.
Im Zuge der zunehmenden Etablierung naturwissenschaftlicher Methoden in der Medizin traten in Deutschland erste Konflikte zwischen Forschungsinteressen und Interessen der Versuchsperson gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf. Die Kritik bezog sich vor allem auf die Durchführung von Experimenten an unaufgeklärten Patienten. Veranlasst durch die Debatte um Albert Neissers Versuche zu einem Syphilis-Impfserum, bei denen Neisser acht junge Frauen ohne deren Kenntnis das Serum von Syphiliskranken injiziert hatte, veröffentlichte das preußische Kultusministerium im Jahr 1900 eine Anweisung an Klinikvorsteher, in der die informierte Einwilligung der Probanden explizit gefordert und Forschung an nicht einwilligungsfähigen Personen verboten wurde[1]. Dieser ersten Regulierung der medizinischen Forschung folgten 1931 in Reaktion auf die Lübecker Impfkatastrophe, bei der 77 mit einem unreinen BCG-Impfstoff geimpfte Kinder starben, die überaus weitreichenderen Richtlinien des Reichsministeriums des Inneren[2]. Diese Richtlinien sind in verschiedener Hinsicht bemerkenswert. Erstmals wurde hier die Notwendigkeit zur Forschung am Menschen explizit mit der gleichfalls bestehenden, besonderen Pflicht des Arztes gegenüber dem Individualwohl der Versuchsperson verbunden. Die damals formulierten Regeln wie die Pflicht zur Begründung und zur Risiko-Nutzen-Abschätzung von Versuchen, das Erfordernis präklinischer Untersuchungen, das Prinzip der informierten Einwilligung sowie der besonderer Schutz von Sterbenden, Personen in Notlagen und Minderjährigen griffen vorweg, was erst weit später in internationale Richtlinien wie der Deklaration von Helsinki ab 1964 Eingang finden sollte. Und dennoch verhinderten die Vorgaben der Reichsrichtlinie nicht, dass es nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 zu einem massiven Zivilisationsbruch kam. Die Menschenwürde und ärztliche Ethik missachtend, instrumentalisierten deutsche Ärzte Insassen von Konzentrationslagern für verschiedenste, teils letal verlaufende Menschenexperimente; aber auch in Heil– und Pflegeanstalten wurden missbräuchliche Versuche an Patienten durchgeführt.
Ein Teil dieser Verbrechen im Nationalsozialismus wurde im Rahmen der Nürnberger Ärzteprozesse 1946 – 1947 aufgearbeitet [3]. Der resultierende Nürnberger Kodex stellte einen ersten internationalen Versuch dar, medizinische Forschung auf ethische Prinzipien zu verpflichten, blieb jedoch als Kompromiss der Alliierten in seiner praktischen Relevanz limitiert. Erst die 1964 vom Weltärztebund veröffentlichte Deklaration von Helsinki [4] erreichte eine breitere internationale Wirkung. In den folgenden Jahrzehnten wurden die dort formulierten ethischen Grundsätze zur heute gültigen Forschungsethik fortentwickelt. Sie finden sich neben der mehrfach revidierten Deklaration von Helsinki[5] beispielsweise in den Good Clinical Practice Richtlinien des International Council for Harmonisation of Technical Requirements for Pharmaceuticals for Human Use (ICH), die gemeinsame durch EU, USA und Japan erarbeitet wurden[6], oder in der Oviedo Konvention über Menschenrechte und Biomedizin des Europarats[7], aber z.T. auch umgesetzt im deutschen Arzneimittelgesetz (AMG) und Medizinproduktegesetz (MPG).
Im Grundsatz wird durch die verschiedenen ethischen Konventionen das Individualwohl der Versuchsperson als prioritär gegenüber den Interessen der Forschung gestärkt. Ableitbar vom Konzept der Menschenwürde (siehe Grundgesetz, Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen), nach dem andere Menschen niemals nur als Mittel zur Erfüllung eines Zweckes benutzt werden sollten, dürfen Allgemeinwohl und Forschungsinteressen alleine keinen Vorrang vor den Rechten des Individuums haben, sondern es muss zuvor eine sorgfältige Abwägung des erwarteten Nutzens mit den möglichen Risiken erfolgen. In diesem Abwägungsprozess bieten die im Belmont Report[8] sowie die von Beauchamp & Childress [9] formulierten Prinzipien für die biomedizinische Ethik wie: Respekt vor der Autonomie der Person, Wohltun, Nichtschaden und Gerechtigkeit, grundlegende ethische Orientierung. Aus diesen abstrakten ethischen Grundlagen lassen sich folgende konkrete Regeln und Bedingungen ableiten, die Forschung am Menschen legitimieren und eine Balance zwischen dem Schutz der Versuchsperson und der grundgesetzlich verankerten Freiheit der Forschung sicherstellen sollen: Risiko-Nutzen-Abwägung in Bezug auf die einzelne Versuchsperson, Bedeutung des Forschungsvorhabens für die Heilkunde, wissenschaftliche Validität, gerechte Probandenauswahl und freie informierte Einwilligung[10]. Richtlinien zur Good Clinical Practice schaffen zudem Vorgaben zur Implementierung dieser Prinzipien.
Die Historie missbräuchlicher Versuche in Deutschland wie auch in anderen Teilen der Welt, u.a. in der Tuskegee Syphilis Studie (1932 – 1972) oder offengelegt durch Henry Beechers Publikation 1966[11], belegen: Die ethischen Prinzipien der Forschung am Menschen alleine sind nicht hinreichend um Missbrauch zu verhindern. Es bedarf zusätzlicher prozeduraler Mechanismen, die die Umsetzung der Prinzipien der Forschungsethik in der Praxis gewährleisten. Hierzu wurde ab den 1970er Jahren das überaus effektive Modell der Beratung durch eine unabhängige Ethik-Kommission eingeführt. In Deutschland beurteilen Ethik-Kommissionen die biomedizinische Forschung am Menschen sowie mit Körpermaterialien und Daten, die einem Individuum zuzuordnen sind. Durch die umfassende Bewertung der Studien– und Prüfpläne anhand der Kriterien wissenschaftliche Qualität, rechtliche Zulässigkeit und ethische und medizinische Vertretbarkeit tragen die Ethik-Kommissionen in entscheidender Weise zur Moderierung der ethischen Konfliktfelder der medizinischen Forschung bei[12]. Dabei muss auch auf die grundgesetzlich geschützte Freiheit der Forschung geachtet werden. Die Ethik-Kommissionen bemühen sich daher, proaktiv das Wohl der Versuchsperson ebenso zu sichern wie den medizinischen Fortschritt auf Basis einer ethisch legitimierten, qualitativ hochwertigen Forschungspraxis.
Geschichte der Ethik-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland
Die ersten deutschen Ethik-Kommissionen wurden 1973 an den Universitäten Ulm und Göttingen eingerichtet. 1975 wurde in Tokio die Forderung nach unabhängigen Ethik-Kommissionen in der revidierten Deklaration von Helsinki festgeschrieben[13]. In der Folge entstand eine große Zahl von Ethik-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland. Mit der Musterberufsordnung für Ärzte von 1985, die forschende Ärzte dazu verpflichtet, sich von einer Ethik-Kommissionen beraten zu lassen[14], etablierte sich das heutige, föderale System der Ethik-Kommissionen in Deutschland. Nach Landesrecht wurden unabhängige medizinische Ethik-Kommissionen bei den medizinischen Fakultäten, Landesärztekammern sowie einzelnen Landesbehörden eingerichtet. Die Tätigkeit der Ethik-Kommissionen erfolgt auf Grundlage verschiedener rechtlicher Vorschriften wie dem Arzneimittelgesetz (AMG), dem Medizinproduktegesetz (MPG), dem Strahlenschutzgesetz (StrlSchG), dem Transfusions-gesetz (TFG) und dem Berufsrecht, die z.T. maßgeblich durch europäisches Recht geprägt werden. Danach ist eine zustimmende Bewertung durch die zuständige Ethik-Kommission für AMG-, MPG– und StrlSchG-Studien zwingend rechtlich erforderlich. Im Berufsrecht hat das Ethikvotum in den meisten Bundesländern hingegen keine rechtsverbindliche Wirkung, sondern ist Ausdruck einer Beratungspflicht. In der DDR gab es zwar einen zentralen Gutachterausschuss, der klinische Prüfungen bescheiden musste, aber keine vergleichbare Entwicklung unabhängiger und regionaler Ethik-Kommissionen.
Die ethischen Prinzipien für die medizinische Forschung am Menschen sind Antwort auf die vielfachen Missbräuche in der Vergangenheit; sie bieten Orientierung für die Forschungspraxis und ihre Berücksichtigung ermöglichen eine den ethischen Standards entsprechende medizinische Forschung. Ethik-Kommissionen leisten dabei einen wichtigen und unverzichtbaren Beitrag. Auch wird vor dem Hintergrund der heutigen Anforderungen an medizinische Forschung, die zunehmend von wirtschaftlichen Interessen, einer beschleunigten Forschungspraxis auch aufgrund globaler gesundheitlicher Herausforderungen sowie von den Möglichkeiten und Herausforderungen der Digitalisierung geprägt ist, klar, dass die die Forschungsethik einer kontinuierlichen Weiterentwicklung im Dialog zwischen Praxis und Theorie bedarf.
Der Arbeitskreis Medizinischer Ethik-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland e.V.
Seit 1983 bildet der ‚Arbeitskreis der Medizinischen Ethik-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland‘ eine Plattform der Zusammenarbeit der Ethik-Kommissionen in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft. Zu den wesentlichen Aufgaben des Arbeitskreises gehört es:
- dazu beizutragen, dass die Ethik-Kommissionen ihre Tätigkeit, die dem Patienten– und Probandenschutz, dem Schutz des Forschers und der Allgemeinheit verpflichtet ist, sachgerecht ausüben können,
- Problemstellungen im Bereich medizinischer Forschung, vor allem zur Ethik in der Medizin, in Wort und Schrift wissenschaftlich zu erörtern und durch Publikation der Öffentlichkeit zugänglich zu machen,
- Fortbildungen zur Arbeit von Ethik-Kommissionen anzubieten,
- daraufhin zu wirken, dass die formale Praxis der Antragstellung und der Verfahrensweisen harmonisiert wird,
- den Meinungs– und Erfahrungsaustausch national und international zu fördern,
- Stellung zu Belangen der Ethik-Kommissionen im öffentlichen Diskurs zu beziehen sowie die Beschlüsse des Arbeitskreises national und international zu kommunizieren.
Der Arbeitskreis organisiert zwei jeweils zweitägige Konferenzen pro Jahr, die einen Halbtag zur Fortbildung von Mitgliedern von Ethik-Kommissionen und der Mitarbeiter von Geschäftsstellen beinhalten. Ein Forschungspreis wird jährlich ausgeschrieben. Der Arbeitsreis ist Ansprechpartner für Behörden und Ministerien, nimmt Stellung zu Gesetzgebungsverfahren, die die Belange und Aufgaben von Ethik-Kommissionen betreffen, und engagiert sich intensiv auf europäischer Ebene. So hat der Arbeitskreis nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass auch in der EU-Verordnung 536/2014 zur Neuregulierung von klinischen Prüfungen mit Arzneimitteln die zentrale Rolle der Ethik-Kommissionen für die Sicherung forschungsethischer Prinzipien im Bewertungsverfahren erhalten bleibt.
Die Geschäftstelle und der Vorstand beantworten im Jahr knapp 200 Anfragen von Sponsoren, Forschern, Auftragsforschungsinstituten und medizinischen Fachzeitschriften aus dem In– und Ausland.
Darüber hinaus entwickelt der Arbeitskreis gemeinsam mit der Bundesärztekammer Fortbildungspläne für Ärzte (sogenannte Prüferkurse), in denen die Anforderungen für Forschung am und mit Menschen, insbesondere zu klinischen Prüfungen mit Arzneimitteln und Medizinprodukten, festgelegt werden.
- Ministerium der geistlichen U-uM-A: Anweisung an die Vorsteher der Kliniken, Polikliniken und sonstigen Krankenanstalten. Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen, 1901, S 188 – 189
- Reichsminister des Innern: Richtlinien für neuartige Heilbehandlungen und für die Vornahme wissenschaftlicher Versuche am Menschen. Reichsgesundheitsblatt, 1931, 6:174 – 175 (abgedruckt in: Deutsche Medizinische Wochenschrift. Heft 57. Jg. 1931. S. 509) und https://dg-pflegewissenschaft.de/wp-content/uploads/2017/05/ForschungsrichtlinienReichsinnenministeriums.pdf [27.06.2020].
- Mitscherlich, A.: Medizin ohne Menschlichkeit: Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses. Fischer-Taschenbuch-Verl., Frankfurt a. M., 1960.
- World Medical Association: Declaration of Helsinki 1964. https://www.wma.net/wp-content/uploads/2018/07/DoH-Jun1964.pdf [27.06.2020].
- World Medical Association: Declaration of Helsinki 2013. https://www.wma.net/policies-post/wma-declaration-of-helsinki-ethical-principles-for-medical-research-involving-human-subjects/ [27.06.2020].
- International Conference on Harmonization (ICH): Good Clinical Practice E6 (1996). https://database.ich.org/sites/default/files/E6_R2_Addendum.pdf [27.06.2020].
- Council of Europe: Convention on Human Rights and Biomedicine ETS No.164 (1997). https://rm.coe.int/CoERMPublicCommonSearchServices/DisplayDCTMContent?documentId=090000168007cf98 [27.06.2020].
- National Commission for the Protection of Human Subjects of Biomedical and Behavioral Research: The Belmont Report (1979). https://www.hhs.gov/ohrp/regulations-and-policy/belmont-report/read-the-belmont-report/index.html [27.06.2020].
- Beauchamp, Tom L., Childress, James F.: Principles of Biomedical Ethics. Oxford University Press. 8th Edition, 2019.
- Raspe, H., Hüppe, A., Strech, D., Taupitz, J. (Hg.): Empfehlungen zur Begutachtung klinischer Studien durch Ethik-Kommissionen. Medizin-Ethik 25 — Jahrbuch des Arbeitskreises Medizinischer Ethik-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland, Deutscher Ärzte-Verlag Köln, 2012, 2. überarbeitete Auflage.
- Beecher, H.K.: Ethics and clinical research. N Engl J Med, 1966. 274(24): p. 1354 – 60.
- Doppelfeld, E., J. Hasford: Medizinische Ethikkommissionen in der Bundesrepublik Deutschland: Entstehung und Einbindung in die medizinische Forschung. Bundesgesundheitsblatt — Gesundheitsforschung — Gesundheitsschutz, 2019. 62(6): p. 682 – 689.
- World Medical Association: Declaration of Helsinki 1975. https://www.wma.net/what-we-do/medical-ethics/declaration-of-helsinki/doh-oct1975/ [27.06.2020].
- Bundesärztekammer: (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/MBO/MBO-AE.pdf [27.06.2020].